Erziehungsstellenkind imitiert Zweijährige

Der sechsjährige Paul imitiert seine zweijährige Erziehungsstellenschwester und möchte wie sie getragen werden und einen Schnuller benutzen

Liebe Lesende,

Sie haben bestimmt von sich noch lustige Kindheitsfotos. Nicht diejenigen, auf denen Sie mit Vokuhila in die Kamera grinsen. Nein, die, auf denen Sie niedlich, mit Schnuller eingekuschelt auf dem Arm Ihrer Bezugsperson zu sehen sind. Und direkt bekommen Sie ein wohliges Gefühl … oder beklagen den Body, der Ihnen als Baby angezogen wurde. Mit zwei Jahren oder später gab es dann das erste böse Erwachen – die Schnullerfee kam und nahm alle Schnuller mit! Entweder Sie waren so pfiffig wie ich und haben einfach Ihren Daumen benutzt (bis Mitte 20 ein geliebter rechter Daumen) oder aber Sie waren bereit loszulassen. Aber erinnern Sie sich noch an das Gefühl dieser Geborgenheit? Hinten im Hinterkopf, es wandert ein bisschen zum Nacken. Behalten Sie dieses Gefühl, während Sie hier weiterlesen.

Was ist Deprivation?

Wenn Sie die letzten Eintragungen dieser Beitragsreihe „Gute Gründe“ gelesen haben, so werden Sie schnell bemerkt haben, dass viele unserer Erziehungsstellenkinder Deprivation erfahren haben. Also Vernachlässigung in verschiedensten Formen.

Auch das Erziehungsstellenkind Paul, über den wir heute berichten möchten, zählt zu den Kindern mit Deprivation im Kindesalter. Meist haben diese Kinder die Diagnose ICD-10 T74.0Z. Der ICD bedeutet „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“ oder auf Deutsch „Internationale Klassifikation der Krankheiten“. T74 steht für “ Missbrauch von Personen“. T74.0 steht für „Im Stich lassen“ oder „Vernachlässigen“. Das Z steht für „Zustand nach“. Zumeist treffen wir in unserem beruflichen Alltag auf emotionale Deprivationen (emotionale Vernachlässigung).

Diagnosen in der pädagogischen Arbeit

Aber als pädagogische Fachberatungen sehen wir das Kind mit seinen Bedürfnissen, weniger seine Diagnosen. Sie sind jedoch hilfreich, um detektivisch tätig zu werden und zu verstehen, vielleicht auch um Sachverhalte zu akzeptieren, wie es der Fall von Erziehungsstellenkind Lina gezeigt hatte, den wir zuletzt vorgestellt haben. Den Beitrag von Lina verlinken wir nochmal unter diesem Artikel.

Erziehungsstellenkind Paul

Ähnlich wie bei unseren anderen vorgestellten Erziehungsstellenkindern Maria und Lina hat auch Paul in seiner frühen Kindheit das Gefühl erfahren müssen, dass er für seine Bezugspersonen nicht wichtig war. Gleichzeitig hat er Einsamkeit erlebt. Jedoch geht Paul mit der Situation anders um. Aber fangen wir vorne an. Und zäumen das Pferd heute einmal von hinten auf. Denn den „guten Grund“ von Paul kennen Sie nun schon.

Biografie eines Erziehungsstellenkindes

Paul ist jetzt sechs Jahre alt. Als Kleinkind wurde Paul oft „abgestellt“. So steht es in den Berichten, die es zu seiner Vergangenheit gibt. Wahlweise lag er über mehrere Stunden in seinem Maxi Cosi oder im Bettchen, ohne Kontakt und ohne Aufmerksamkeit. Hat er geschrien, kam irgendwann jemand, gab ihm zu essen oder wechselte seine Windeln. Dann folgte wieder Einsamkeit.

Das bedeutete für Paul, keine Erfahrungen sammeln zu können. Er hat also nicht erlebt, wie es ist mit Babyspielzeug zu spielen, zu schmusen, Fingerspiele zu beobachten oder auf dem Arm ein Fläschchen zu bekommen.

Leben in der Erziehungsstellenfamilie

Paul ist mit drei Jahren aufgrund von Überforderung der Kindeseltern in eine unserer Erziehungsstellenfamilien eingezogen. Dort lebt er mit den Erziehungsstelleneltern Svenja und Michael sowie den leiblichen Kindern des Ehepaars, Anton und Luise. Anton ist jetzt acht Jahre alt, Luise wird dieses Jahr zwei Jahre alt. Zudem hat Paul eine innige Beziehung zum Familienhund Kurt, dieser ist auf Familienbildern immer doppelt so groß wie alle anderen.

Besucht man die Familie, so öffnet oftmals Erziehungsstellenmutter Svenja die Tür. Auf ihrem Arm hat sie meist ein Kind, jedoch ist es in der Regel unser sechsjähriger Paul und nicht, wie anzunehmen, die zweijährige Luise. Dick eingepackt in eine Kuscheldecke und mit einem Schnuller im Mund begrüßt er schmatzend den Besuch.

Erste Irritation bei den Erziehungsstelleneltern

Paul ist in die Familie gekommen und hat die Familienmitglieder beobachtet, bei der zweijährigen Luise hat er etwas entdeckt, was im fehlte. Er nahm seinen Mut zusammen und fragte seine Erziehungsstelleneltern nach einem Schnuller…für sich selbst. Auch das enge Kuscheln und Liebkosen hat Paul irgendwann selbstständig eingefordert.

Zuerst waren die Erziehungsstelleneltern Svenja und Michael sehr irritiert, weil Paul sich dies wünschte. Einem so großen Kind noch einen Schnuller geben? Was denken wohl die anderen Personen im Umfeld? Ist sowas in Ordnung und richtig?

Gute Gründe von Erziehungsstellenkind Paul

Zusammen mit der für sie zuständigen Fachberatung wurde erarbeitet, dass es ok sein kann, auch noch in diesem Alter ab und an einen Schnuller zu haben oder wie ein Baby getragen zu werden. Paul hat diese Momente in seiner Kindheit bisher nicht erfahren dürfen und erlebt dies nun eben jetzt. Wir nennen dieses Verhalten Nachnähren. Mit diesem Verhalten versucht Paul, die entstandenen Lücken aus seinem Säuglingsalter zu füllen.

Nachnähren

Und solange es weder Erziehungsstellenkind Paul noch die Familie stört, kann Paul auch mit sechs Jahren einen Schnuller nutzen, sich mit Babyspielzeug beschäftigen, Fingerspiele machen, schmusen und auf dem Arm aus einem Fläschchen trinken.

Und vielleicht wird Paul sich irgendwann ein Foto anschauen, bei dem er eingekuschelt und mit Schnuller im Mund im Arm einer seiner Bezugspersonen liegt. Und er wird auch dieses wohlige Gefühl im Nacken spüren. Und das ist ein „guter“ Grund.

Im nächsten Teil stehen Erziehungsstellenkind Luca und sein „guter“ Grund im Fokus.

Hier finden Sie weitere Beiträge aus unserer Reihe „Gute Gründe“:

Lina hat nach einem schönen Ausflug mit Ihrer Erziehungsstellenmutter in ihrem Kinderzimmer ihr Lieblingskleid zerstört und sich die Haare abgeschnitten. Dafür hatte sie einen guten Grund.

Gute Gründe – Lina

Maria spricht fremde Menschen an und möchte mit ihnen mitgehen.

Gute Gründe – Maria

 

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